IPHIGENIE AUF TAURIS
Schauspiel von Johann Wolfgang von GOETHE. Die Erstfassung, in rhythmischer
Prosa, entstand im Auftrag des Weimarer Hofs zum Kirchgang der Herzogin
Luise nach Geburt der Tochter Luise Auguste Amalie. Der Kirchgang fand
am 14.3. 1779 statt, das Stück wurde mit Verspätung am 28.3.1779
fertig und am 6.4.1779 in Ettersburg von einer Liebhabergruppe aufgeführt;
Goethe spielte dabei den Orest (»Noch nie erblickte man«, so
Ch. W. HUFELAND in seinen Erinnerungen, »eine solche Vereinigung
physischer und geistiger Vollkommenheit und Schönheit in einem Mann«).
Die vierte und endgültige Fassung, der zwei von J. C. LAVATER überlieferte
Versionen in freien Jamben (zweite Fassung von 1780) sowie in Prosa (dritte
Fassung von 1781) vorausgegangen waren, vollendete Goethe - laut Tagebuch
- am 29.12.1786 auf seiner Italienreise; Uraufführung: 7.1.1800, Wien,
die erste Aufführung in Weimar, in einer nicht erhaltenen Bearbeitung
F. SCHILLERS, erfolgte am 15.5.1802.
Vorlage für das Stück ist das Drama Iphigenie bei den Taurern
des EURIPIDES, das im 18. Jh. zahlreiche Bearbeiter fand, darunter J.E.
SCHLEGEL (1737) sowie, für die Oper, D. SCARLATTI (1713) und Ch. W.
GLUCK (1779). Der Stoff eignete sich durch seinen untragischen Ausgang
für den Weimarer Anlaß, darüber hinaus aber gilt das Werk
als einer der Schlüsseltexte der deutschen Klassik, als Reflexion
über den »Prozeß der Befreiung des Menschen aus Erbschuld
oder naturhafter Unmündigkeit« (H. R. Jauß) sowie
- neben dem Tasso - als Resümee der persönlichen und politisch-öffentlichen
Erfahrungen Goethes in Weimar, deren Schattenseiten »weder zu einer
enragierten subjektivistischen Opposition gegen die Verhältnisse noch
zu einer leidend resignativen Unterwerfung unter die Gegebenheiten führte
... [Das Stück] praktiziert insofern schon die aus den Weimarer Erfahrungen
gewonnene Anschauung des Dichters, als Iphigenie eine neue, bewußt-reflektierende
und aktiv-handelnde Art des Menschen repräsentiert, die der objektiven
Wirklichkeit gegenüber die Bewußtseinsqualität des Menschen
und seine Entscheidungsfähigkeit behauptet« (H.-D. Dahnke).
Der Gang der äußeren Handlung weicht bei Goethe nur in wenigen,
für die innere Umorientierung der Vorgänge jedoch bezeichnenden
Zügen von der antiken Vorlage ab; »erstaunlich modern und ungriechisch«
nannte Schiller das Werk (Brief an Ch. G. KÖRNER), und Goethe selbst
bemerkte gegenüber J. P. ECKERMANN: »Es ist reich an innerem
Leben, aber arm an äußerem.« Schon der Verzicht auf
den Chor macht deutlich, daß sich die Ereignisse hier nicht, wie
bei Euripides, vor den Augen einer kommentierenden Öffentlichkeit
abspielen, sondern sich in den Seelen der Akteure und allenfalls
noch in den Gesprächen zwischen ihnen vollziehen; als »Seelendrama«
charakterisierte schon W. SCHERER das Schauspiel. Auch erscheint die
taurische Umwelt, verglichen mit der barbarischen der antiken Tragödie,
durch die bloße Anwesenheit Iphigenies bereits humanisiert.
Iphigenie, Tochter des Agamemnon und der Klytaemnestra, und somit aus
dem Geschlecht der Tantaliden, soll während Agamemnons Zug gegen Troja
geopfert werden, um die Göttin Artemis (Diana) zu besänftigen.
Diana rettet Iphigenie und entrückt sie zu den Taurern, wo sie in
ihrem Tempel und vor ihrem Standbild als Priesterin dient. Thoas, König
der Taurer, schenkt der Unbekannten das Leben und bricht dadurch mit dem
Gesetz, jeden Fremden auf dem Altar der Diana zu opfern. Diese Vorgeschichte
wird im ersten Akt des Dramas als bekannt vorausgesetzt; in Iphigenies
Einleitungsmonolog dominiert bereits ihr Konflikt zwischen Pflicht und
Neigung, zwischen dem Auftrag der Göttin und ihrem Heimweh nach Griechenland.
Verschärft wird dies durch den Wunsch des Thoas, sich mit ihr zu verheiraten.
Iphigenie lehnt ab; weder will sie für immer bei den Taurern bleiben,
noch wagt sie es, Thoas ihre Identität und Abstammung aus dem gegen
die Götter stets rebellischen Geschlecht der Tantaliden (»Wohl
dem, der seiner Väter gern gedenkt«) zu enthüllen. Durch
ihre Weigerung verletzt, befiehlt Thoas, den alten Brauch seines Landes
wieder aufzunehmen und zwei junge Männer, die an der Küste gelandet
sind, zu opfern. Bei den beiden Unbekannten handelt es sich um Orest und
seinen Freund Pylades; Orest, der Bruder Iphigenies, hatte auf Ratschlag
des Apoll seine Mutter Klytaemnestra (die zusammen mit ihrem Liebhaber
Aigisth den König Agamemnon erschlug) getötet; er wird deshalb
von den Erinnyen verfolgt, und Erlösung ist ihm nur verheißen,
wenn er das hölzerne Standbild der Artemis / Diana, der Schwester
des Apoll, nach Griechenland bringt. Bei Goethe erhält diese Weisung
(»Bringst du die Schwester zu Apollen hin, /und wohnen beide dann
vereint zu Delphi /(...) So wird für diese Tat das hohe Paar / Dir
gnädig sein.. .«) einen Doppelsinn, da sie sich – von Orest
unerkannt - auch auf seine eigene Schwester Iphigenie bezieht. Die
Befreiung Orests von den Erinnyen vollzieht sich im dritten Akt, in dem
er sich Iphigenie zu erkennen gibt und die Opferung durch die eigene Schwester
(»Der Brudermord ist hergebrachte Sitte / Des alten Stammes; und
ich danke, Götter, / Daß ihr mich ohne Kinder auszurotten /
Beschlossen habt«) als Höhepunkt und zugleich Ende des göttlichen
Fluches annimmt, der auf seinem Geschlecht lastet; er verfällt in
einen Heilschlaf, den eine Vision der Unterwelt begleitet, und wird nach
Anrufung der Götter durch Iphigenie von den Erinnyen befreit: »Es
löset sich der Fluch, mir sagt's das Herz.« Iphigenie ist zunächst
bereit, mit Orest und Pylades unter Mitnahme des Bildnisses der Diana von
Tauris heimlich zu fliehen; sie erkennt in diesem Handeln jedoch eine Fortsetzung
der alten Kette von Betrug und Täuschung und offenbart sich schließlich
Thoas : »Wenn / Ihr wahrhaft seid, wie ihr gepriesen werdet: / So
zeigt's durch euern Beistand und verherrlicht /durch mich die Wahrheit!«.
Der König gewährt ihnen die Heimfahrt auf Bitten Iphigenies,
deren Verhalten Orest mit den Worten kommentiert: »Gewalt und List,
der Männer höchster Ruhm, / Wird durch die Wahrheit dieser hohen
Seele / Beschämt, und reines kindliches Vertrauen / Zu einem edeln
Manne wird belohnt.«
Der Aufbau des Dramas ist streng symmetrisch. Um Iphigenie
als Mittelpunkt gruppieren sich die vier anderen Akteure in zwei
Paaren - Thoas mit seinem Vertrauten Arkas auf der einen, Orest und Pylades
auf der andern Seite. Die innere Dramatik entwickelt sich in
zwei Konfliktsphären, deren eine - die Spannung zwischen
Thoas und Iphigenie - die andere - die Orest-Handlung - umgreift,
von dieser jedoch erst den Impuls zu ihrer vollen Entfaltung empfängt.
Das hier wirkende Formprinzip ist also nicht architektonischer Art, sondern
einer in Steigerungen sich vollziehenden Metamorphose verwandt. Die klassische
Einheit der Handlung vollendet sich in der Einheit von Zeit und
Ort: der heilige Hain der Diana. Natur, die das Geheimnis des Göttlichen
einschließt, ist der einzige Schauplatz der Begegnungen. Die beiden
durch die Gestalt Iphigenies miteinander verbundenen Spannungsfelder bewegen
sich um das Problem der Humanität, um die Frage, wie »reine
Menschlichkeit« in einer Welt zu verwirklichen sei, in der der einzelne
zwischen Determiniertheit und prometheischer Freiheit, zwischen verfügtem
Schicksal und persönlicher Schuld heillos verfangen scheint. Die
Frage stellt sich für Goethe als eine in der ursprünglichen Bedeutung
des Worts religiöse: Die Überzeugung einer Entsprechung und Wechselwirkung
zwischen dem Menschen und den numinosen Kräften des Universums hält
auch den extremen Momenten des Zweifels und der Angst stand. Eine Teilantwort,
mit der gleichsam die Voraussetzungen für eine Lösung des Problems
beleuchtet werden, gibt die Orest-Handlung. Orests innerer Konflikt, der
ihn bis zum Wahnsinn verstört, entspringt seiner Determinationsgläubigkeit:
»Mich haben sie zum Schlächter auserkoren, / zum Mörder
meiner doch verehrten Mutter, / und eine Schandtat schändlich rächend
mich / durch ihren Wink zu Grund gerichtet.« Fasziniert von diesem
Schicksal, das ihn zu töten bestimmt, wo er liebt, den rückwärtsgewandten
Blick auf die Blutschuld geheftet, die ihm von den Göttern aufgedrängt
und die doch seine eigene ist, erscheint ihm das Verlöschen seiner
fluchbeladenen Individualität im Tod als einziger Ausweg aus dem Circulus
vitiosus von Missetat und Leiden. Weder Pylades' tatkräftiger Optimismus
noch das Wiedersehensglück der Schwester finden Widerhall in seinem
gegenwarts- und zukunftsblinden Bewußtsein. Die Begegnung mit Iphigenie,
die ausersehen scheint, den eigenen Bruder zu töten und so den tantalidischen
Fluch weiterzutragen, treibt seine Schicksalsbesessenheit zum Äußersten,
gibt aber auch den Anstoß zu seiner Rettung: Das Übermaß
des Leidens zerbricht die Schranken des Ichbewußtseins; in schlafähnlicher
»Ermattung«, die den Heilkräften der Natur ungehindert
Raum gibt, erlebt Orest in einer Vision die Versöhnung mit seinen
im Tod entsühnten Ahnen. Zwar ist der Fluch, der auf dem ganzen Geschlecht
lastet, nicht aufgehoben - denn noch sind dem Ahnherrn Tantalus »grausame
Qualen / mit ehernen Ketten fest aufgeschmiedet« -, aber es wird
die Möglichkeit sichtbar, ihn zu überwinden.
Als »verteufelt human« bezeichnete Goethe das Stück,
als Schiller es 1802 zur Aufführung bringen wollte, und bereits während
der Arbeit an der ersten Fassung schreibt der Autor am 6.3. 1779 an Charlotte
von Stein aus Apolda: »Hier will das Drama gar nicht fort, es ist
verflucht, der König von Tauris soll reden, aIs wenn kein Strumpfwürker
in Apolde hungerte.« Die Idealität der Handelnden, deren Leitbegriffe
Aufrichtigkeit voreinander, Freiheit, Selbstdisziplin und immer wieder
die »Wahrheit« sind, wird in der Sprachform des Schauspiels
sinnfällig. Der fünfhebige jambische Blankvers fließt,
durch Enjambements oft zu größeren rhythmischen Einheiten
verknüpft, in einem gemessenen Parlando dahin, das nur in Augenblicken
gesteigerten Erlebens, vor allem in Monologen und Gebeten, zu beschleunigteren,
vier- oder fünfhebigen daktylisch-trochäischen Tempi hinüberwechselt.
Auf der Scheitelhöhe der dramatischen Entwicklung erscheint in einem
antiken, amphibrachischen Versmaß das Lied der Parzen (»Es
fürchte die Götter / Das Menschengeschlecht!«), in dem
Iphigenie die Teilnahmslosigkeit der Götter gegenüber dem menschlichen
Schicksal, die archaische Unterwerfung der Menschen unter die göttliche
Willkür sich vor Augen fuhrt. Mit dieser Tradition bricht sie, aber
nicht in der Form gewalttätiger Rebellion wie ihre Vorväter,
sondern durch die Verpflichtung ihres Handelns auf das Ideal der Humanität,
durch das Eingedenken ihrer Entscheidungsfreiheit. Der Mensch löst
sich aus dem unmündigen Status der Vergangenheit, der auch die Entfremdung
gegenüber sich selbst bedeutete, um der eigenen »Stimme / Der
Wahrheit und der Menschlichkeit«, wie Thoas es formuliert, zu folgen,
die jedem Individuum zugeeignet ist, wie Iphigenie ausführt: »Es
hört sie jeder,/ Geboren unter jedem Himmel, dem / Des Lebens Quelle
durch den Busen rein / Und ungehindert fließt,« Anstelle der
Unterwerfung unter die Götter soll diese »Stimme« den
friedlichen Umgang der Menschen miteinander stiften und kann dies leisten,
da darin das verbindende Moment zwischen den ansonsten autonomen und sich
als autonom erkennenden Individuen besteht. Damit hat Goethe in diesem
Schauspiel die zentralen Gedanken des ästhetischen Bildungsprogramms
der deutschen Klassik formuliert, die für sein weiteres Werk wie
für das Schillers verbindlich sind. Die Emanzipation des Menschen
ist vor allem - in Fortführung der Säkularisierungsbestrebungen
der Aufklärung - eine Befreiung von religiöser Bevormundung,
politisch-soziale Veränderungen - und dies wirkt in Goethes Beurteilung
der Französischen Revolution nach - setzen die Fähigkeit des
Individuums zu Selbstbestimmung und gegenseitiger Anerkennung dieser Qualität
voraus, wie es in dem sich wandelnden Abschiedsgruß des Thoas (»So
geht!«-»Lebt wohl!«) manifest wird. Die mittlerweile
kaum mehr überschaubare Forschungsliteratur zu diesem Werk hat immer
wieder auf diese weitreichenden Bezüge aufmerksam gemacht, in neuerer
Zeit vor allem durch W. RASCH; dem stehen neuerdings literatursoziologische
Ansätze (Ch. BÜRGER, F. HACKERER) gegenüber, die den Text
in engerem Zusammenhang mit Goethes Situation in Weimar und seinem Verhältnis
zum aufgeklärt-absolutistischen Gebaren des Herzogs Carl August sehen,
ohne daß damit die Bedeutung der Iphigenie in Abrede gestellt wird,
für die Th. W. ADORNO den schönen Satz fand: »Inkommensurabel
ragt das Schauspiel Iphigenie über die Bildungssphäre, in der
das Wort Klassizismus seine Nische hat.«
G.He.-M.Pr.
KINDLERs Neues Literatur-Lexikon