Kupferstich von J. Albrecht (o.J.) zu F.M. Klingers Trauerspiel "Die Zwillinge" (Spiegelszene IV,5) und Druckseite aus der Erstausgabe seines Dramas "Sturm und Drang" (beide 1776)

Sturm und Drang

Hintergrund

Am 1.4.1777 wurde durch die Seylersche Gruppe das Stück eines jungen Mannes namens Friedrich Maximilian Klinger aufgeführt. Der ursprüngliche Titel des Dramas lautete „Der Wirrwarr"; aber Christoph Kaufmann hatte den Vorschlag gemacht, das Stück in „Sturm und Drang" umzubenennen. Bald wurde dieser Titel als Bezeichnung für ein Programm anerkannt, dem vor allem junge Leute mit Begeisterung folgten.
Christoph Kaufmann, 1753 im Schweizer Winterthur geboren, war ein Idol der damaligen Jugend. Man nannte ihn „Kraftapostel", „Gottesspürhund", den „Einzigen" und den „Abgesandten Gottes an die Menschen". Er reiste durch Deutschland und erregte Aufsehen durch sein Äußeres - mähnenartig flatterndes Haar, bis zum Nabel offenes Hemd - und durch sein Denken und Handeln. Er folgte dem Ruf „Zurück zur Natur", trank nur Wasser oder Milch, ernährte sich vegetarisch und behauptete, kaum Schlaf zu brauchen. Veröffentlicht hat er nichts; ab 1778 verblasste sein Stern; er starb 42jährig in der Herrnhuter Brüdergemeinde.
Bezeichnend ist, dass dieser junge Mann einer Literaturperiode den Namen gegeben hat, ohne es zu wollen. Es ist eine Epoche der jungen Leute, die gesellschaftlichen Zwängen entkommen wollen, die deshalb reisen und wandern und das Naturerlebnis suchen, die sich nicht vorschreiben lassen, wie man sich zu kleiden und wie man sich korrekt zu verhalten hat. „Sturm und Drang" ist deshalb auch ein Fachausdruck der Jugendpsychologie geworden, mit dem man „Wesenszüge der geistigen Pubertät" zusammenfassend benennt.
Schon in Klingers Drama ging es um abenteuernde Kraftgenies, die vom Freiheitsgedanken und von Rousseaus Rückbesinnung auf die Natur bestimmt sind. Sie verlassen das enge Europa und beteiligen sich am Unabhängigkeitskrieg in Amerika.
Im Rückblick erkannte man, dass die Gedanken, die vor allem zwischen 1770 und 1780 Aufsehen erregten, vorbereitet waren durch literaturtheoretische Schriften von Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder. Literarische Höhepunkte der Epoche sind aber zweifellos die Schriften des jungen Goethe und des jungen Schiller.
Die gesamte Literaturperiode fällt in die Zeit des aufgeklärten Absolutismus in Preußen, des Verfalls des Ancien régime in Frankreich und der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen. Der historische Hintergrund ist also in diesem Ausschnitt gleich dem, an den im Kapitel „Aufklärung" erinnert wurde.
Der „Sturm und Drang" löst die „Aufklärung" nicht ab, sondern bildet einen Kontrapunkt. So erschienen Lessings Drama „Nathan der Weise", ein Höhepunkt der Aufklärung, und Lichtenbergs „Vermischte Schriften" später als Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werthers". Schillers Drama „Die Räuber" wurde geschrieben, als Kant die Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?" bei der Berlinischen Wochenschrift noch nicht eingereicht hatte.



Die Texte des „Sturm und Drang“ sind Zeugnisse der Erneuerungsbestrebungen engagierter jugendlicher Menschen, die die überlieferten Lebensauffassungen und Werte rigoros in Frage stellten: das Verhältnis zur Natur und zur Geschichte, die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen, soziale und sittliche Zustände. Exemplarisch dafür ist Johann Gottfried Herders Kritik an einer Zeit, der »Herz! Wärme! Blut! Menschheit! Leben!« verlorengegangen seien. Neu bewertet wurden die geistigen und emotionalen Kräfte des einzelnen. Viel offener als bisher, mit Phantasie und Gefühlsüberschwang inszenierte eine junge Generation das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums. In den Mittelpunkt des ästhetischen Denkens rückte die schöpferische Energie des Künstlers, frei von den Fesseln der Nachahmung tradierter Muster. Den stärksten Ausdruck fand das neue Lebensgefühl im Begriff >Genie<. An der Herausbildung dieses Programmworts hatten Lessing und Herder (»Originalgenie«) Anteil; Vorstellungen vom Inhalt des Begriffs kann der Text von Lavater vermitteln, eine andere Bestimmung gab Kant in seiner Kritik der Urteilskraft. Inbegriff des dichterischen Genies war für die >Stürmer und Dränger< Shakespeare, wie aus Goethes Rede Zum Schäkespears Tag (1771) zu erfahren ist.
Für den kurzen Zeitabschnitt (etwa 1770-1785), in dem der Geniekult das literarische Leben weitgehend beherrschte, wählten - nach einem gleichnamigen Drama Maximilian Klingers - schon Zeitgenossen den Namen >Sturm und Drang<. Diese wenigen Jahre wurden für die Literaturentwicklung äußerst lebhaft und produktiv. Die starken persönlichen und gesellschaftlichen Spannungen, die die jungen Dichter erlebten, bewirkten ihre Einsicht in die soziale Bedingtheit der Existenz des Individuums. Aus dieser Erkenntnis erklärt sich die in den dramatischen Dichtungen von Lenz, Klinger, Goethe, Schiller und anderen gestaltete Zuwendung zu den Entrechteten, Schwachen und Erniedrigten, andererseits aber auch die Begeisterung für die »Kerls«, die Kraftgenies, die es wagten, in ihren pathetischen Deklarationen als große einzelne der politisch-sozialen Ordnung zu trotzen. In der Lyrik fand der >Sturm und Drang< neue Formen des persönlichen, unmittelbaren Ausdrucks in der Natur- und Erlebnisdichtung (s. Bürgerliche Empfindsamkeit), in freien Rhythmen und in den für die Zeit charakteristischen Genres Lied, Ode und Hymne.